Vertrieben. Am nächsten Morgen betrat Ramiro sein Büro und verlangte, mit Frau Gómez, seiner seit über zwanzig Jahren treuen Haushälterin, zu sprechen. „Ich möchte, dass Sie diese Frau untersuchen“, befahl er unverblümt. „Ihre Familie, ihre Freunde, ihre Vergangenheit, was sie verbirgt. Ich will wissen, wessen Schatten sie gefolgt ist, als sie hierherkam.“ Frau Gómez runzelte die Stirn.
„Mein Herr, bei allem Respekt, Lucía ist ein Engel für die Kinder. Seit sie hier ist, lächeln sie, spielen und essen sogar besser.“ Genau deshalb unterbrach Ramiro sie eisig. „Niemand gibt so viel, ohne etwas zurückzuerwarten.“ Die Haushälterin sah ihn traurig an, nickte aber kleinlaut.
Sie wusste, dass Ramiro Valverde, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, von nichts aufzuhalten war. Lucía war derweil mit den Zwillingen in der Bibliothek. Sie brachte ihnen das Lesen bei – nicht mit herkömmlichen Büchern, sondern mit einer improvisierten Methode. Sie hatte Knöpfe, Samen und Körner auf Pappe geklebt, damit sie die verschiedenen Oberflächenstrukturen erkennen konnten. „Das bedeutet Sonne“, erklärte sie und führte Leos kleine Finger über eine Reihe Linsen.
„Und die hier?“, fragte Bruno und berührte sanft ein paar aufgereihte Kichererbsen. „Das ist Mama.“ Stille senkte sich über den Raum. Die Kinder sahen einander an, als sei der Geist ihrer Mutter zwischen den unsichtbaren Buchstaben erschienen. Lucía sagte nichts mehr; sie umarmte sie einfach. Ein paar Tage später kam Frau Gómez mit einem versiegelten Umschlag zurück und übergab ihn Ramiro.
Bitte schön, mein Herr. Der Millionär öffnete es eifrig. Darin fand er Berichte, Dokumentenkopien und Zeitungsausschnitte. Er erfuhr, dass Lucía aus einer bescheidenen Familie in einem Vorort stammte, dass sie als Assistentin in einem Gemeindezentrum für behinderte Kinder gearbeitet hatte und dass sie nach dem Tod ihrer Mutter alles abrupt verlassen hatte. Doch was seine Aufmerksamkeit besonders fesselte, war eine Notiz am Rand.
Man hatte sie mehrmals am Grab von Elena Valverde gesehen, wo sie ihr die letzte Ehre erwies. Ramiro war wie vor den Kopf gestoßen. Elena Valverde war seine verstorbene Frau gewesen. „Was ist denn los?“, murmelte er, das Glas Whisky zitterte in seiner Hand. In dieser Nacht, als er nicht schlafen konnte, ging Ramiro hinunter ins Wohnzimmer. Er fand Lucía auf dem Sofa, Bruno und Leo schliefen auf ihrem Schoß. Sie streichelte den Kindern sanft über das Haar und flüsterte ihnen etwas zu.
Ramiro beobachtete sie, verborgen im Schatten. Etwas in ihm zerbrach. Er sah Zärtlichkeit, Wärme, etwas, das er mit all seinem Geld nicht kaufen konnte. Doch seine Gedanken waren zerrissen. Was tat diese Frau, trauerte sie am Grab seiner Frau? Welche geheime Verbindung bestand zwischen ihnen? Die Stille des Herrenhauses war erfüllt von seinen Gedanken.
„Ich lasse dich nicht mit meiner Familie spielen, Lucía“, murmelte er in der Dunkelheit. „Bevor du mir meine Kinder nimmst, werde ich herausfinden, wer du wirklich bist.“ Am nächsten Tag wachte Lucía mit einem seltsamen Gefühl auf. Etwas lag in der Luft, ein Misstrauen, das schwer auf ihr lastete.
Ramiro blickte sie nicht länger gleichgültig an, sondern misstrauisch, als wäre jede ihrer Bewegungen Teil eines geheimen Plans. Die Zwillinge klammerten sich derweil fester an sie. Sie spürten, ohne es wirklich zu verstehen, dass sich etwas veränderte. Lucía hielt die Kinder fest und schwor sich im Stillen, dass sie sie, was auch immer Ramiro dachte, nie wieder allein lassen würde.
Der Tag dämmerte grau unter einem drohenden Himmel. Die Stille im Herrenhaus war anders, bedrückender, als barg jede Wand ein Geheimnis. Lucía erwachte, die Zwillinge noch immer an sie geschmiegt, und einen Moment lang glaubte sie, alles sei ruhig, doch bald sollte sie feststellen, dass dies der schwierigste Tag seit ihrer Ankunft werden würde. Ramiro hatte drei Nächte hintereinander nicht geschlafen.
Der Whisky beruhigte ihn kaum, und jedes Mal, wenn er die Augen schloss, erschien dasselbe Bild vor seinem inneren Auge. Er stand vor dem Grab seiner verstorbenen Frau Elena. Was tat sie dort? Was bedeutete ihre Nähe zu den Zwillingen? War sie eine Betrügerin? An diesem Morgen schritt Ramiro entschlossen den Korridor entlang.
Lucía half Bruno und Leo über den Flur und führte sie geduldig. Die Kinder lachten und hielten sich jeweils an einem Ende ihres Schals fest. „Noch ein Schritt, Leo. Du schaffst das“, ermutigte Lucía sie. „Wir sind fast da“, sagte Bruno und unterdrückte ein Lachen. Die Zwillinge stolperten, aber Lucía umarmte sie zärtlich.
In diesem Moment sprach Ramiro mit so eisiger Stimme, dass es den Raum erzittern ließ. „Ich möchte mit dir allein sprechen.“ Lucía blickte überrascht auf. Der Ton des Millionärs war unerbittlich. Auch die Kinder spürten es und ergriffen sofort seine Hand. „Papa“, murmelte Leo beunruhigt. „Jetzt“, wiederholte Ramiro barsch.
Lucía brachte die Kinder zu Frau Gómez, damit sie eine Weile auf sie aufpasste. Als sie ins Wohnzimmer zurückkam, stand Ramiro mit hinter dem Rücken verschränkten Händen am Fenster und starrte auf den bewölkten Horizont. „Was soll das bedeuten?“, fragte er, ohne sich umzudrehen, und warf den Umschlag mit den Dokumenten, die er hatte prüfen lassen, auf den Tisch.
Lucía verharrte regungslos und erkannte die Dokumente sofort. Ihr Leben reduzierte sich auf Berichte und Notizen. „Ich verstehe nicht, was Sie damit bezwecken, Mr. Valverde“, erwiderte sie ruhig, obwohl ihr Herz raste. „Ich suche die Wahrheit“, sagte er und drehte sich endlich um. „Und die Wahrheit ist: Jemand wie Sie steht nicht einfach so vor meiner Tür.“
Lucia sah ihm in die Augen, ohne den Blick abzuwenden. „Ich bin gekommen, weil sie jemanden brauchten, der sich um Bruno und Leo kümmert. Das ist alles.“ Ramiro schlug mit der Faust auf den Tisch. „Lüg mich nicht an! Ich weiß, dass du am Grab meiner Frau warst. Warum? In welcher Beziehung standest du zu Elena?“ Die Stille, die folgte, war so bedrückend, dass das ganze Anwesen den Atem anzuhalten schien.
Lucía schloss kurz die Augen und antwortete dann leise: „Weil Elena die Einzige war, die jemals an mich geglaubt hat.“ Ramiro schauderte. „Wie das? Ich war doch erst ein Teenager, als ich sie kennenlernte. Meine Mutter arbeitete ehrenamtlich im Krankenhaus. Elena ging heimlich dorthin, ohne Kameras oder Presse, um die kranken Kinder zu unterstützen.“
Eines Tages sah sie mich, wie ich den Kleinen vorlas. Sie war die Erste, die mir sagte, ich hätte ein Talent zum Unterrichten und zum Umgang mit Menschen. Diese Erinnerungen rührten Lucía zu Tränen. Sie ermutigte mich, weiterzulernen, obwohl ich kein Geld hatte. Sie schenkte mir Bücher, gab mir Ratschläge und behandelte mich wie eine kleine Schwester. Ich habe ihre Güte nie vergessen.
Als er starb, hatte ich das Gefühl, ihm danken zu müssen, und sei es nur, indem ich Blumen auf sein Grab legte. Deshalb bin ich hingegangen. Nur deswegen. Ramiro erstarrte. Mit dieser Antwort hatte er nicht gerechnet. „Und warum hast du es mir nicht gesagt?“, fragte er mit zitternder Stimme. „Weil ich dachte, er würde mir nicht glauben. Weil ich dachte, Lucía würde ihm direkt in die Augen sehen.“
Wir leben umgeben von Misstrauen und so hohen Mauern, dass jede Wahrheit ohne Prestige sofort beiseitegeschoben wird. Der Millionär knirschte mit den Zähnen. Ein Teil von ihm wollte ihr glauben, doch ein anderer Teil wehrte sich hartnäckig. Er hatte zu viele Jahre gegen den Schmerz angekämpft und ihn hinter Geld und Kontrolle verborgen. Jemandem wie Lucía zu vertrauen, hieß, eine Wunde wieder aufzureißen, die niemals heilen würde.
„Wenn das, was Sie sagen, stimmt“, sagte Ramiro mit leiser, aber bestimmter Stimme, „dann beweisen Sie, dass Sie nicht hier sind, um meine Kinder zu missbrauchen.“ „Das habe ich bereits bewiesen“, erwiderte sie ruhig. „Sehen Sie sie sich an, Herr Valverde. Bruno und Leo lachen, träumen, lernen. Nicht weil ich etwas Besonderes bin, sondern weil sie es sind. Ich bin nur ihretwegen hier.“
Die Entschlossenheit ihrer Stimme ließ Ramiro einen Moment lang sprachlos zurück. Die Stille wurde von schnellen Schritten durchbrochen. Bruno und Leo kamen angerannt und suchten nach Lucía. „Wo bist du?“, fragte Bruno. „Wir brauchen dich“, fügte Leo lautlos hinzu. Lucía rannte auf sie zu und umarmte sie fest. Die Kinder klammerten sich aneinander, als hätten sie Angst, sie zu verlieren. Ramiro beobachtete sie.
Ihre Zwillinge, die bis dahin teilnahmslos gewesen waren, lachten nun und waren wissbegierig. Alles dank dieser Frau, die sie wie eine Feindin befragt hatte. Der Zorn verflog allmählich und wurde von einem Gefühl abgelöst, an das sie sich nicht mehr erinnern konnte: Schuldgefühle. Sie sagte nichts mehr. Schwerfällig verließ sie das Zimmer und ließ Lucía mit den Zwillingen zurück.
Doch tief in ihm begann etwas zu zerbrechen. An diesem Abend trank Ramiro wieder allein. In der Stille seines Arbeitszimmers murmelte er: „Elena, hast du sie geschickt?“ Und zum ersten Mal seit Langem fühlte er sich nicht mehr allein in der Dunkelheit. Das Anwesen der Valverdes erstrahlte in einem anderen Licht.
Die Sonne, die es nur selten vermochte, durch die schweren Fenster dieses stets feierlichen Ortes zu dringen, strahlte nun kraftvoll herein und erhellte die Galerie mit den Familienporträts. Lucía war wie immer früh aufgewacht, doch an diesem Morgen bemerkte sie etwas an den Kindern, das sie tief berührte.
Bruno und Leo warteten nicht länger passiv darauf, dass sie sie abholte. „Heute möchte ich mich selbst anziehen“, sagte Bruno bestimmt und suchte seine Schuhe am Bettrand. „Und ich möchte mir die Haare kämmen“, fügte Leo lachend hinzu und hob ungeschickt den Kamm. Lucía beobachtete sie schweigend, mit beklemmender Stimme. Es waren kleine Schritte nach vorn, gewiss, aber es waren die ersten Anzeichen von Unabhängigkeit für Kinder, die bis vor Kurzem isoliert gelebt und sich nicht gewehrt hatten.
Während sie ihnen half, beobachtete Ramiro sie ungesehen vom Türrahmen aus. Seine Lippen verzogen sich zu einem Schmollmund. Was er sah, entwaffnete ihn. Seine Zwillinge, jahrelang unterwürfig gewesen, besaßen nun Willenskraft, Energie und Begeisterung. Er konnte es nicht länger leugnen. Etwas in Lucía erweckte Leben in ihnen, doch unmittelbar danach kehrte der Zweifel wie Gift zurück.
Was, wenn all das Teil eines geheimen Plans war und er nur die Gunst der Kinder gewinnen wollte, um sie später zu manipulieren? Ramiro hatte sein Imperium auf Misstrauen aufgebaut, und dieser Instinkt ließ sich nur schwer auslöschen. Das Frühstück an diesem Morgen war ungewöhnlich. Bruno und Leo kamen lächelnd an den Tisch. Frau Gómez traute ihren Augen nicht.
Fortsetzung auf der nächsten Seite